Architektur aus Eisen und Glas: Als die Ingenieure zu bauen begannen

Architektur aus Eisen und Glas: Als die Ingenieure zu bauen begannen
Architektur aus Eisen und Glas: Als die Ingenieure zu bauen begannen
 
Langfristig waren die Wandlungen, die sich unter der historisierenden Hülle der Architektur des 19. Jahrhunderts abspielten, entscheidender als die Frage nach dem angemessenen Stil: Eisen und Glas lösten wegen ihrer vielfältigen Einsatzmöglichkeiten die traditionellen Baumaterialien Haustein, Backstein und Holz allmählich ab. Für bestimmte Zwecke, zum Beispiel für Ketten und Zuganker, war Eisen zwar schon in der Spätantike verwendet worden. Doch erst die industrielle Revolution schuf die Voraussetzungen einer auf Eisen gründenden Architektur. Dass man bei der Schmelze von Eisenerz seit der Mitte des 18. Jahrhunderts Koks statt Holzkohle verwendete und spezielle Tiegel zum Einsatz brachte, erleichterte die Gewinnung und Verarbeitung von Gusseisen entscheidend.
 
Als erstes Bauwerk, das fast ganz aus Gusseisen bestand, gilt die Brücke von Coalbrookdale in Mittelengland (1777-79), die nach einem Entwurf Thomas Farnolls Pritchards über den Severn geschlagen wurde. Die Teile für ihre Viertelkreisbögen wurden in der benachbarten Werkstatt des Eisengießers Abraham Darby gegossen. Die frühen Eisenbrücken ahmten noch Holz- oder Steinkonstruktionen nach: Auch bei Pritchards Brücke treffen sich die Bögen wie beim traditionellen Gewölbebau im Scheitelpunkt. Die Eisenelemente hatten zudem oft die Form kleiner Käfige, die wie Bausteine zusammengefügt wurden.
 
Für die Entwicklung der Eisenarchitektur sollte der Brückenbau über Jahrzehnte das bevorzugte Experimentierfeld bleiben. Es entstanden - zunächst in England - kühne Verkehrsbauwerke, technische wie baukünstlerische Meisterleistungen. Hatten bei den ersten Eisenbrücken meist akademisch ausgebildete Architekten mit Eisengießern zusammengearbeitet, so wurde der Brückenbau bald zum Terrain spezialisierter Ingenieure. Einen Meilenstein stellte um 1820 die Einführung des Walzeisens dar: Im Unterschied zum spröden, wenig biegbaren Gusseisen war Walzeisen flexibler und auch auf Zug beanspruchbar. Mit ihm ließen sich Hänge- wie Balkenbrücken in neuen Dimensionen errichten. Hängebrücken erlaubten zwar größere Weiten, waren aber anfälliger für Schwankungen durch Wind oder Last und deshalb für den Eisenbahnverkehr problematisch. Erst mit Versteifungen durch Eisenfachwerk konnten am Ende des 19. Jahrhunderts gigantische Hängebrücken mit mehreren hundert Metern Spannweite entstehen - etwa die Brooklyn Bridge in New York (1869-83), die Tower Bridge in London (1886-94) oder die Brücke über den Firth of Forth bei Edinburgh (1883-90).
 
Schon am Ende des 18. Jahrhunderts entstanden in England auch die ersten Industriebauten, deren Stützen-Träger-System aus Gusseisen bestand, das mehr Flexibilität und Feuersicherheit versprach. Während im frühen Fabrikbau eine schnörkellose Gestaltung dominierte, wie sie Karl Friedrich Schinkel auf seiner Englandreise 1826 beeindruckte und zu eigenen Projekten anregte, herrschte in der zweiten Jahrhunderthälfte auch hier der formale Überschwang des Historismus. Selbst modern konstruierten Fabrikations- und Lagerstätten wurde oft ein historistisches Gewand übergestülpt.
 
Eine heute überraschend anmutende Bedeutung für die Entwicklung moderner Konstruktionen und Materialien hatte der Bau von Gewächshäusern. Wann genau erstmals Eisen statt Holz als Fassung für die Glasscheiben eines Gewächshauses verwendet wurde, ist nicht bekannt; es dürfte aber Ende des 18. Jahrhunderts in England gewesen sein. Die Anfänge waren bescheiden, wie das Gewächshaus, das Friedrich Ludwig von Sckell 1807 im Nymphenburger Park bei München errichtete, oder das Gebäude im »Jardin des Plantes« in Paris (1803) belegen. Joseph Paxton, dem gelernten Gärtner und Gartenarchitekten des Herzogs von Devonshire, gelang mit dem Treibhaus für den Park von Chatsworth House (1836-40) dann eine ebenso kühne wie technisch ausgereifte Lösung.
 
1850/51 schuf Paxton ein Aufsehen erregendes und für die Entwicklung der modernen Architektur grundlegendes Werk: den Londoner »Kristallpalast«. Der Wettbewerb für das zentrale Gebäude der ersten Weltausstellung, die 1851 in London stattfinden sollte, hatte keine befriedigenden Entwürfe erbracht. Daher reichte Paxton, gemeinsam mit der Ingenieurbaufirma Fox & Henderson, nachträglich den Entwurf einer riesigen gläsernen Halle ein, deren Skelett aus genormten Gusseisenstützen und -trägern bestehen sollte. Paxton erhielt den Zuschlag, und die Ausstellungshalle, die die Zeitschrift »Punch« auf den Namen »Kristallpalast« taufte, wurde in der außergewöhnlich kurzen Bauzeit von neun Monaten aufgestellt. Dies war nur möglich durch ein einheitliches Rastermaß, durch die Reduzierung auf wenige, vorfabrizierte Komponenten und durch generalstabsmäßige Planung. Für die Zeitgenossen war der »Kristallpalast« eine Sensation, auch wenn er nur die Erfahrungen des Gewächshausbaus konsequent weiterentwickelte.
 
Weitere Erfindungen verbesserten die Verarbeitungs- und Einsatzmöglichkeiten von Eisen ständig. Nachdem zunächst eine Art eisernes Fachwerk aus Gitterträgern entwickelt worden war, setzte sich in der zweiten Jahrhunderthälfte das »räumliche«, genietete Fachwerk durch. Walzprofile in Form von U- und von Doppel-T-Trägern bildeten hierfür die Voraussetzung. Dachkonstruktionen sparten so an Gewicht und erlaubten größere Spannweiten. Markthallen, Kaufhäuser und Passagen konnten nun relativ einfach mit transparenten Dächern oder Kuppeln ausgestattet werden.
 
Schon Anfang des Jahrhunderts war beim Wiederaufbau der abgebrannten Pariser »Halle aux Blés«, der kreisrunden Getreidemarkthalle, die Dachkonstruktion durch eine leichte Kuppel aus Gusseisen, Kupfer und Glas ersetzt worden. In der Nachbarschaft entstanden ab 1855 die größten und imposantesten Markthallen des 19. Jahrhunderts, die »Halles Centrales«. Nachdem der Pariser Architekt Victor Baltard zunächst 1851 einen eher konventionellen Entwurf mit massiven Steinmauern und Eisenelementen vorgelegt hatte, entwickelte er - möglicherweise unter dem Einfluss Georges Eugène Baron Haussmanns, der in Paris ganze mittelalterliche Stadtviertel abreißen und breite Boulevards, Sternplätze und Parkanlagen anlegen ließ - eine fortschrittlichere Konzeption: Eine Fläche von neun Hektar im Herzen der Stadt wurde mit stählernen Pavillons überbaut, die dazwischen liegenden Straßen wurden mit gläsernen Dächern geschützt.
 
Um 1850 stand die Gusseisenarchitektur in den Industriestaaten - besonders in den USA und hier vor allem in New York - in voller Blüte. Der vielseitige Erfinder und Gießereibesitzer James Bogardus hatte 1848 die Idee, seinen Fabrikneubau in der Center Street Manhattans ganz aus Gusseisen zu errichten. Da auch die Fassaden aus vorgefertigten Eisenteilen bestanden, konnte der Bau in nur wenigen Monaten errichtet werden. Das Beispiel machte schnell Schule, Bogardus bekam in New York und weiteren Städten der Ostküste zahlreiche Aufträge. Bald produzierten auch andere Gießereibesitzer derartige »Fertighäuser«. In Lower Manhattan beherrschten gusseiserne Fassaden von Fabrik- und Geschäftsbauten ganze Straßenzüge. Da diese Fassaden den großen Stadtbränden, die in den 1870-er Jahren in New York und Boston wüteten, nicht standhielten, ebbte die Mode bald wieder ab.
 
Mit nichts sind Eisen-Glas-Konstruktionen so eng verknüpft wie mit den Bahnhofsbauten, der charakteristischen Bauaufgabe des 19. Jahrhunderts. Der weltweit erste Bahnhof war die Liverpooler Crown Station an der 1830 eröffneten Eisenbahnstrecke zwischen den Industriemetropolen Liverpool und Manchester; er prägte zudem den Typus der Durchgangsstation, bei der das Abfertigungsgebäude parallel zur Bahnsteighalle liegt, die die Gleise beschirmt. Beim Kopfbahnhof steht das Abfertigungsgebäude dagegen senkrecht zur Halle. Während die Empfangsgebäude den schweren Prunk des Historismus entfalteten, waren die Bahnsteighallen oft leichte Eisen-Glas-Konstruktionen, die - wie beim Anhalter Bahnhof in Berlin - eine monumentale Höhe erreichen konnten.
 
Auch kulturelle und religiöse Bauwerke öffneten sich dem technischen Fortschritt, auch wenn dies meist hinter traditionellen Steinfassaden verborgen blieb. Victor Baltard schuf in Paris die Kirche Saint-Augustin am Boulevard Malesherbes (1860-71), die außen einen Mischstil aus Gotik und Frühenaissance, innen jedoch eine Gusseisenkonstruktion mit schlanken, hohen Säulen zeigt. In einem eher unauffälligen Gewand verbergen auch zwei Bibliotheken in Paris bemerkenswerte Eisenkonstruktionen: die Bibliothek von Sainte-Geneviève (1842-51) neben dem Panthéon und der Lesesaal der Bibliothèque Nationale (1854-75) von Henri Labrouste. Es sollte aber noch Jahrzehnte dauern, bis Eisenkonstruktionen bei Bauten gehobenen Anspruchs auch außen gezeigt wurden. Führende Architekten und Architekturtheoretiker wie Gottfried Semper oder Augustus Welby Pugin standen dem Material skeptisch gegenüber; Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc konstatierte dagegen immerhin strukturelle Parallelen zwischen der Architektur der Gotik und den Eisenskelettkonstruktionen.
 
Ihren Höhepunkt erreichte die Eisenarchitektur bei der Weltausstellung von 1889 in Paris mit dem nach seinem Erbauer, dem Ingenieur und Bauunternehmer Gustave Eiffel, benannten Turm, der zum Wahrzeichen der Stadt werden sollte. Mehrere Brücken, das Kaufhaus »Au Bon Marché« in Paris, die »Galerie des Machines« für die Weltausstellung 1867, der Bahnhof von Pest in Ungarn und das Stahlskelett für die New Yorker Freiheitsstatue hatten Eiffel international bekannt gemacht. Den Bau des 300 m hohen Turms hatte Eiffel selbst vorgeschlagen. Weniger die Konstruktion selbst, die Prinzipien des Brückenbaus in die Vertikale übertrug, oder die künstlerische Gestaltung begründete die Popularität des Eiffelturms, sondern seine unüberbietbare, überwältigende Form. Fast jeder prominente Pariser Intellektuelle sprach damals allerdings verächtlich über den »grauenhaften, widerlichen, monströsen, nutzlosen« Turm; kurz nach Baubeginn protestierten etwa Guy de Maupassant, Charles Gounod und Alexandre Dumas der Jüngere gegen den »Turm zu Babel« - ein Beleg dafür, wie weit die alltäglich gewordene Verwendung von Eisen und ihre ästhetische Akzeptanz noch auseinander klafften. Für die Jugendstilarchitekten Victor Horta und Hector Guimard, die ornamental gestaltete oder verzierte Eisenkonstruktionen in ihre Bauten integrierten, wirkte der Eiffelturm dagegen inspirierend.
 
Als sich die Schokoladenfirma Menier in Noisiel bei Paris 1871/72 eine neue Fabrik errichten ließ, ging der Architekt Jules Saulnier ähnlich wie beim Fachwerkbau vor, ersetzte aber die hölzernen Teile durch diagonal angeordnete Stahlstreben, die mit verschiedenfarbigen Ziegeln ausgefacht wurden: Dem Stahlfachwerk, das zum von der Fassade gelösten Stahlskelett optimiert wurde, gehörte die Zukunft. Die nächsten Entwicklungsschritte sollten aber nicht in Europa gemacht werden, sondern in den USA.
 
Dr. Gilbert Lupfer
 
 
Mignot, Claude: Architektur des 19. Jahrhunderts. Aus dem Französischen. Neuausgabe Köln 1994.

Universal-Lexikon. 2012.

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